Seit 1994 zeichnet der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung Schriftsteller aus, die sich laut Statut um die europäische Verständigung verdient gemacht haben. In diesem Jahr bekommt der französische Schriftsteller und Übersetzer Mathias Enard den Preis. Traditionell am Vorabend der Buchmesse wird die Auszeichnung im Gewandhaus überreicht. An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, weshalb gerade Mathias Enard in diesem Jahr mit seinem aktuellen Buch “Kompass” den Preis bekommt.

Die Jury führt viele richtige und wichtige Gründe an, doch kein einziger davon trägt zur europäischen Verständigung im wahrsten Sinne dieser beiden Wörter bei. Auch das Buch trägt nicht zur Verständigung der Europäer untereinander bei. Ganz im Gegenteil lässt sich Mathias Enards “Kompass” zwischen den Zeilen auch als Abgesang auf die europäische Idee lesen. Diese ist genauso überholt wie der Nationalstaat, auch wenn der in kleinbürgerlichen Kreisen derzeit eine wahre Renaissance erlebt. Mathias Enard lässt in seinem Buch keinen Zweifel aufkommen, wohin das führen wird: Sich als Land in der Tiefe seiner selbst zu versenken, muss in der schlimmsten Gewalt enden, lässt er seinen Protagonisten, den Wiener Musikwissenschaftler Franz Ritter, sagen. Das Zitat wird explizit auf Deutschland bezogen.

Die Preisjury betont in einer Zeit, in der immer mehr Menschen zu Vereinfachungen neigen, die Notwendigkeit eines derart mit Wissen vollgepackten Buches. In der Tat hat Mathias Enard in dunklen Zeiten ein hellsichtiges Buch geschrieben. Das es sich nicht auf den einschlägigen Bestsellerlisten wiederfindet, unterstreicht diesen Umstand noch einmal ausdrücklich. Es ist ein Buch, das man all den Hassern in diesem Land wärmstens ans Herz legen möchte, auch wenn man natürlich weiß, dass diese nur einen Bruchteil davon verstehen werden.

Allen, die den zu uns Geflüchteten schon ein Ikea-Regal neiden, möchte man aus dem Buch von Mathias Enard diese Stelle vorlesen: “… wir waren Prinzen des Westens, die der Orient als solche empfing und behandelte, mit feinen Umgangsformen, übertriebener Ehrerbietung, sanfter Wehmut …”

Allen, die glauben, in Deutschland oder in Europa könne es nie wieder Krieg geben, möchte man auf die Stelle verweisen, in der Mathias Enard darauf hinweist, dass sich vor dem Krieg auch kein Mensch vorstellen konnte, “dass Syrien von schlimmster Gewalt verwüstet werden sollte”.

Allen, die meinen, die deutschen Kulturdenkmäler würden ewig stehen, sollten wissen, was Mathias Enard schreibt: “Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter, als sich ihre abgrundtiefe, ahnungslose Dummheit mit dem mehr oder weniger diffusen Gefühl verbindet, es handele sich bei diesem Kulturerbe um eine seltsam rückwirkende Emanation der fremden Macht.” Und allen, die immer wieder faseln, die Menschen aus dem Orient würden uns auf einmal überrennen, sollten Mathias Enards Hinweis zur Kenntnis nehmen, dass Orient und Okzident schon immer zusammengehörten.

Natürlich wäre es gut, wenn es in Zeiten des in Europa grassierenden Nationalismus wieder zu mehr Verständigung zwischen den Europäern kommen würde. Andererseits drängt gerade wegen dieses immer stärker werdenden Nationalismus und etlicher andere Probleme (Klimwandel, soziale Spaltung) die Zeit, weshalb es aus evolutorischen Gründen sicher nicht möglich, aber für das nachhaltige Fortbestehen der Menschheit vielleicht besser wäre, diesen Zwischenschritt zu überspringen und endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass wir alle gemeinsam nur auf dieser einen Welt leben. Allen, die sich ob der Probleme in dieser Welt nicht zur Nationalisten, sondern zu Kosmopoliten entwickeln wollen, hat Mathias Enard in der Tat einen guten “Kompass” an die Hand gegeben.

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